Autor:innenleben
Kurzgeschichte „Abkürzung“

Kurzgeschichte „Abkürzung“

Und wieder eine Geschichte für die Aktion „Write me the creeps“ von Yola Stahl. Eigentlich sollte sie ein bisschen historisch werden – irgendwie ist etwas anderes herausgekommen. Ich wünsche euch trotzdem Spaß beim Lesen!

Heutige Wörter:

Friedhof
Skelett
Uhu
Wolkendecke
Blutrot

Die Geschichte:

„Vielleicht hätte ich nicht diese Abkürzung nehmen sollen.“ Dieser Gedanke kam mir zum ersten Mal als ich das Tor zum Friedhof öffnete und es in der Stille der Nacht laut quietschte. Diesen Gedanken denke ich wieder, während ich durch die dunklen Grabreihen haste.

„Jetzt ist es aber zu spät umzudrehen. Ich bin sicher bald auf der anderen Seite und am Ende spare ich bestimmt fünfzehn Minuten Weg durch die Stadt ein“, sage ich mir selbst und kann trotzdem ein Schaudern nicht unterdrücken. Normalerweise komme ich nicht so spät nach Hause, aber heute hatte ich eine wichtige Kundenpräsentation halten müssen und ja… alles hatte sich hingezogen. Immer mehr Fragen wurden gestellt und ich wurde immer nervöser.

„Trotzdem ist alles gut gegangen“, rufe ich mir ins Gedächtnis und bin ein bisschen stolz, dass ich diese Hürde überstanden habe, denn normalerweise stehe ich nicht gerne im Mittelpunkt. Eigentlich wäre das ein Grund zum Feiern und ich habe das auch fest vor – doch zuerst muss ich nach Hause kommen. Den letzten Bus hatte ich verpasst und deshalb wollte ich diese Abkürzung nehmen.

Normalerweise habe ich keine Probleme über den Friedhof zu gehen, aber nachts sieht doch alles anders aus. Die Schatten werden länger. Die kahlen Äste der Büsche scheinen nach mir zu greifen und hinter jedem Grabstein vermute ich einen dunklen Schemen. Ich weiß selbst, dass ich mir das alles einbilde, weil ich nicht gerne nachts allein unterwegs bin, aber mein Körper ist trotzdem in Alarmbereitschaft.

Ich laufe also so schnell ich kann, aber meine Ausdauer war auch schon mal besser. Laut, zu laut höre ich mein eigenes Japsen über der Stille des Friedhofes. In meiner Seite sticht es und ich bleibe stehen. „Nur kurz. Ich muss nur kurz Luft holen“ sage ich mir selbst und schaue in den Himmel. Sternen und Mond sind von einer Wolkendecke verborgen. Irgendwo höre ich einen Uhu rufen – zumindest nehme ich an, dass es einer war. So sicher bin ich mir nicht. Beinahe könnte dies ein romantischer Anblick sein, wenn ich nicht so große Angst haben würde.

Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und werfe einen Blick darauf. Mitternacht. So spät bin ich sonst nie unterwegs. Ich schüttele den Kopf, hole nochmals tief Luft und möchte weitergehen, als ich erstarre. Was war das…? Hatte ich da nicht etwas gehört?

Mit zusammengekniffenen Augen sehe ich mich um, doch nichts ist zu sehen. „Ich hätte schwören können, dass ich Geräusch gehört habe. Ein Rascheln“, murmele ich und schlucke. Mein Hals fühlt sich seltsam eng an. „Es wird Zeit, dass ich nach Hause komme.“

Etwas langsamer und vorsichtiger setze ich meinen Weg fort, aber nach ein paar Schritten bleibe ich erneut stehen. Da ist es wieder. Nun habe ich deutlich gehört. Es ist kein Rascheln, sondern ein Schaben. Es hört sich an, als würde Erde weggeschoben werden. Es ist direkt vor mir. Es kommt von einem der Gräber.

Mit Entsetzen sehe ich, wie sich die Erde an einem Grab auf meiner linken Seite bewegt. Sie wird weggedrückt und aus ihr erscheint… Aus ihr streckt sich eine Hand empor. Es ist weniger eine Hand als ein Knochen. Dem Knochen folgen weitere und nach und nach schält sich ein Skelett aus der Erde.

Ich sehe ihm hilflos zu. Mein Kopf möchte nicht verstehen, was gerade passiert. Doch irgendwann setzt mein Fluchttrieb ein und ich stolpere rückwärts. Mein einziges Ziel ist es, weg von dem Skelett zu kommen. Was hier passiert – darüber kann ich später nachdenken!

Doch es ist zu spät. Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter – und dieser Hand fehlt es an Haut und Fleisch. Die schwarzen Höhlen eines Totenschädels blicken mich an und erst jetzt wird mir gewahr: Nicht nur ein Skelett kommt aus dem Grab. Es ist vielmehr so, dass aus jedem Grab ein anderes entsteigt. Sie kommen nach und nach auf mich zu. Manche noch mit Erde bedeckt, manche schwanken leicht und von manchen, die von weiter hinten kommen, tropft eine Flüssigkeit. Sie ist blutrot.

Die Skelette umkreisen mich und ich weiß: Diese Abkürzung hätte ich nicht nehmen sollen. Fünfzehn Minuten mehr Weg wiegen nicht mein Leben auf.

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