Kurzgeschichte: „Rache üben“
Wie auch letzte Woche mache ich wieder bei bei der Aktion „Write me the creeps“ von Yola Stahl mit. Dafür gibt es jede Woche fünf Wörter (Ort, Objekt, Tier, Wetter, Farbe) und ich schreibe dafür eine Geschichte. Die Geschichte von dieser Woche gibt es hier.
Heutige Wörter:
Ruine
Pendel
Harpyie
Blitz
Giftgrün
Die Geschichte:
Ein weiterer Blitz erleuchtet die Ruine der alten Burg schaurig. In der Ferne ertönt Donner und Sally weiß, dass der Sturm nicht mehr weit entfernt ist. Sie lächelt. Die Nacht ist perfekt für ihr Vorhaben.
Mit einem leisen Ächzen schleppt sie den schweren Koffer über den Boden. Er hinterlässt Spuren in der weichen Erde. „Nur noch ein kleines Stück“, keucht sie und zieht ihre Last in die Mitte der Ruine. Es steht nicht mehr viel von der alten Burg. Ein paar Mauern, ein Teil eines Turmes, verstreute Steine. Tagsüber sieht sie romantisch aus, aber nachts verändert sie sich. Sie wird zu einem verlassenen, einsamen Ort, an den sich niemand freiwillig verirren möchte. Also fast niemand. Sally hat mit Absicht die Ruine ausgewählt. Sie ist perfekt für ihr Vorhaben: abgelegen, sicher vor neugierigen Augen und trotzdem nicht zu weit von der Stadt entfernt, denn sollte ihr Vorhaben funktionieren… Sollte ihr Vorhaben funktionieren, dass wäre es gut, wenn das Wesen schnell in die Stadt kommen würde.
Sally lächelt bei den Gedanken daran. „Schließlich“, so denkt sie, „ist es ja auch mein Ziel, dass es in die Stadt kommt. Ich muss nur sicherstellen, dass es das Haus von Ron und Jeanne findet. Dann können die beiden sehen, was sie davon haben, wenn sie mich betrügen!“
Kurz verdunkelt sich Sallys Miene, denn sie denkt an die vergangenen Wochen zurück. Wer hätte ahnen können, dass sie nun vor den Scherben ihres Lebens stehen würde? Es war doch alles so perfekt geplant gewesen: Die Hochzeit mit ihrer großen Liebe Ron, ihre beste Freundin Jeanne als Brautjungfrau… Tja… es war alles gut geplant – und dann zerstört. An einen Abend und das nur, weil Sally früher als sonst von der Arbeit gekommen war…
„Aber wäre ich das nicht, dass hätte ich diesen miesen Arsch geheiratet. Wer weiß, wie lange die beiden mich schon betrügen?“, denkt Sally, während sie mit einem Stock die Kreise aus dem alten Buch auf den Boden malt und die restlichen Utensilien für ihr Ritual auspackt.
Am Anfang war sie in eine Schockstarre verfallen, aber dann hatte sich die Flamme der Wut in ihr geregt. Sie glühte eine Weile und inzwischen brennt sie grenzenlos. Es war ein Wink des Schicksals, dass sie – auf der Suche nach einen Weg Rache zu üben – auf das alte Buch in einem Antiquariat gestoßen war. Das Buch war voll von komplizierten Formeln und kryptischen Bezeichnungen, aber ein Ritual hatte Sallys Aufmerksamkeit geweckt: Die Beschwörung einer Harpyie. Diesem mythologischen Vogel oder Dämon aus der griechischen Mythologie.
„Und mit diesem“, flüstert Sally, beendet ihre Vorbereitung und zieht das giftgrüne Pendel von Jeanne heraus, „kann ich die Harpyie auf die Spur der beiden schicken. Dann kann sie Gerechtigkeit üben.“
Sally überprüft nochmal, dass sie nichts vergessen hat und beginnt mit dem Ritual. Sie liest aus dem Buch die schwierigen Wörter vor und währenddessen beginnt es zu regnen. Der Himmel wird dunkler und dunkler. Ein erneuter Blitz schlägt auf der letzten Silbe der Beschwörung ein, blendet Sally und einen Moment sieht sie nichts. Erst nachdem sie ihre Augen sich wieder an die Dunkelheit gewöhnt haben, erkennt sie den großen Schatten, der vor ihr aufragt. Sally schluckt und öffnet den Mund. Der Schatten ist riesig – und er sieht gar nicht aus, wie die Harpyie in dem Buch. Der Schatten beugt sich über Sally. Sie sieht rote Augen. Scharfe Krallen streifen sie. Sally schreit, doch niemand hört sie. Buch und Pendel fallen auf die nasse Erde. Blut spritzt. Sally verstummt.
Das Wesen richtet sich auf und leckt sich mit seiner langen Zunge über sein Maul, dann wendet es seinen Blick in Richtung Stadt. Es riecht die Menschen. Viele Menschen. Und das Wesen ist hungrig.